2
Nina Kingsford zog ihr rosa Bettjäckchen aus Angora fester über den Schultern zusammen. Nachdem sie ihr kastanienbraunes Haar glatt gestrichen und den Träger ihres elfenbeinfarbenen Nachthemdes aus Satin zurechtgerückt hatte, schenkte sie sich eine Tasse des frisch gebrühten Kaffees ein. Die edle Porzellankanne stand auf einem Frühstückstablett, das die Haushälterin gerade auf ihrem Schoß abgestellt hatte. Die Golduhr auf dem marmornen Kaminsims – ein relativ neues Geschenk von Charlie – schlug zehn Uhr.
Nina gab zwei Stückchen Süßstoff und einen großen Klecks Schlagsahne in ihre Tasse, rührte zweimal um, steckte den schaumigen Löffel in den Mund und leckte ihn ab. Dann tunkte sie mit einem wohligen Seufzer ein kleines Stück Toast in ihren Kaffee und verfütterte es an den wuscheligen weißen Pudel, der eifrig japsend neben ihr auf dem Doppelbett lag.
»Das ist für dich, Suzie Wong, Mamis kleiner Liebling. Sorgt Jackie nicht wundervoll für uns?«, meinte sie lächelnd, streichelte das Hündchen und spielte ein wenig an dem rosafarbenen Satinband in seinem lockigen Fell herum.
Mit einundvierzig war Nina Kingsford noch immer eine schöne Frau, deren Haut selbst ungeschminkt in jugendlichem Glanz schimmerte. Unter dunkel nachgezogenen Brauen funkelten verführerische braune Augen, und ihre hohen Wangenknochen waren zart gebräunt. Neben ihr auf dem Nachtkästchen lagen, achtlos hingeworfen, einige Schmuckstücke, unter anderem ein schwerer Ring mit Saphiren und Diamanten, eine Kette aus massivem Gold und zwei goldene Armbänder.
»Jackie, könnten Sie den Vorhang ein kleines Stück schließen? Vielen Dank, meine Liebe. Die Sonne ist uns beiden heute Morgen ein wenig zu grell«, sagte Nina zu ihrer Haushälterin, einer kleinen, dunkelhaarigen Frau Ende vierzig.
Diese hatte gerade die bunt geblümten Vorhänge zurückgezogen und war damit beschäftigt, die dicke grüne Kordel an dem vergoldeten Ring an der Wand zu befestigen.
»Ach, und suchen Sie mir bitte die Gesellschaftsseite heraus. Diese Zeitungen sind immer so schrecklich unhandlich.« Nina bestrich ein Stück Toast mit Butter und biss ein winziges Stück ab.
Jackie befolgte die Anweisungen bereitwillig, denn sie arbeitete gern bei den Kingsfords. Da Mr Kingsford die Zufriedenheit seiner Frau über alles ging, bezahlte er Jackie ein kleines Vermögen für ihre Dienste, und sie konnte in dem schönen Anwesen in Coogee, einem schicken Vorort im Osten Sydneys, nach Belieben schalten und walten. Außerdem genoss Jackie die Gesellschaft der Reichen und Berühmten, die bei den Kingsfords verkehrten.
»Wenn Sie noch etwas brauchen, Mrs Kingsford, rufen Sie mich einfach. Sie haben um Viertel nach elf einen Friseurtermin. Ihre Kleider sind gebügelt und liegen bereit. Sie brauchen nur noch einen passenden Hut auszusuchen«, ging sie lächelnd mit ihrer Arbeitgeberin den Ablauf des Vormittags durch. »Ach, und ich habe Frank gebeten, den Bentley zu waschen.«
»Sie sind ein Organisationsgenie, Jackie. Ich muss mich um überhaupt nichts kümmern«, erwiderte Nina und leckte sich die manikürte Fingerspitze. Sie war bereits in die Gesellschaftsseite des Sydney Morning Herald vertieft, auf der sie nach ihrem Foto suchte.
»Da bin ich ja«, rief sie erfreut und deutete mit einem grellroten Fingernagel auf ein Foto, während sich die Tür leise hinter Jackie schloss. »So ein Mist. Ich hätte einen größeren Hut aufsetzen sollen. Diese grässliche Angela Bagot drückt mich buchstäblich an den Rand.«
Schmollend wie ein verwöhntes Kind, lehnte sie sich wieder zurück. Doch beim Gedanken an das Mittagessen hellte sich ihre Stimmung wieder auf. Zumindest stand heute kein Krankenhausbesuch mit Blumen und Pralinen bei einem von Charlies langweiligen Jockeys auf dem Programm, denn erstaunlicherweise hatte es seit über zwei Monaten keinen Unfall mehr auf der Rennbahn gegeben.
Auf ihrem Nachttisch schrillte das Telefon mit dem goldenen und elfenbeinfarbenen Dekor.
»Hallooo«, säuselte Nina, während sie sich ausmalte, wie sie wohl in ihrer neuesten Pariser Kreation aussehen würde. Als sie die Stimme ihres Mannes hörte, wurde ihr Tonfall vorwurfvoll. »Ich dachte, wir würden zusammen frühstücken, Charlie. Warum bist du noch nicht zu Hause? Es ist schon schrecklich spät, und wir wollten doch noch ein bisschen Spaß haben, bevor ich wegmuss.«
Charlie beherrschte mühsam seine Stimme.
»Neene, ich rufe aus dem Krankenhaus an«, sagte er ruhig.
Nina stöhnte auf.
»Bitte verlange nicht von mir, dass ich wieder einen deiner Jockeys besuche. Ich bin heute zu einem wichtigen Mittagessen eingeladen. Alle werden da sein.« Sie sank zurück in die Kissen und hörte Charlie nur mit halbem Ohr zu.
Wie ärgerlich. Sicher würde Charlie darauf bestehen, sodass sie früher gehen musste. In diesem Fall würde sie die große Schmuckpräsentation verpassen.
Charlies Stimme klang gepresst und künstlich ruhig. Er legte sich seine Worte sorgfältig zurecht und machte sich auf den unvermeidlichen hysterischen Ausbruch gefasst.
»Hör mir gut zu, Neene. Es geht nicht um einen meiner Jockeys, sondern um Jo und Rick. Sie haben einen kleinen Unfall gehabt, sind aber in Ordnung«, meinte er langsam und wünschte, er hätte seiner Frau diese Mitteilung persönlich und nicht am Telefon machen können.
Nina umklammerte den Hörer und erbleichte.
»Das ist doch ein Scherz ... einer deiner schlechten Scherze«, stammelte sie und stieß Suzie Wong weg, die ihr das Gesicht ablecken wollte.
»Bitte reg dich nicht auf, Neene, mein Schatz«, flehte Charlie. »Den Zwillingen geht es gut. Während der Bahnarbeit ist eines der Pferde gestolpert. Sie sind beide untersucht worden, aber der Arzt möchte, dass sie eine Weile im Prince-of-Wales-Krankenhaus unter Beobachtung bleiben.«
Ninas Aufschrei machte weitere Erklärungen unmöglich. Ohne an das Tablett zu denken, schleuderte sie die Decke beiseite und schwang die Beine über die Bettkante. Ihr Frühstück fiel mit einem lauten Krachen zu Boden. Das rosafarbene Bettjäckchen rutschte ihr von der Schulter. Erschrocken machte Suzie Wong einen Satz vom Bett und verkroch sich unter einem Korbstuhl.
»Meine Babys, Joanna, Ricky, meine wunderschönen kleinen Babys! Wie ist es passiert? Wie konntest du das zulassen? Oh, mein Gott, ich muss zu ihnen!«
Jackie, die das Splittern des Porzellans gehört hatte, kam ins Zimmer gehastet. Nina erhob sich und brach, mitten in einem Haufen von Scherben stehend, in Tränen aus.
»Mrs Kingsford«, entsetzte sich Jackie und eilte auf Nina zu, deren Lippen eine bleiche Färbung angenommen hatten.
»Meine Babys«, schluchzte Nina, und ihre dunklen Augen füllten sich mit Tränen. Ihre schmalen Schultern bebten. Aus dem Telefonhörer in ihrer schlaffen Hand war Charlie zu hören, der verzweifelt ihren Namen rief.
Jackie bugsierte ihre Arbeitgeberin vorsichtig zurück aufs Bett und nahm ihr den Hörer aus der Hand.
»Lassen Sie mich mit Ihrem Mann sprechen, Mrs Kingsford«, meinte sie rasch. Einen Arm fest um Nina gelegt, lauschte sie Charlies Erklärung.
»Ich kümmere mich um alles, Sir«, erwiderte sie dann gelassen. »Nein, nein, sie wird sich schon wieder fangen. Ich sorge dafür, dass Mrs Kingsford sich beruhigt, und erzähle ihr alles. Dann warten wir, bis Sie einen Wagen schicken, um sie abzuholen.«
Nina riss ihrer Haushälterin den Hörer aus der Hand.
»Ich bin keine Kranke und kann selbst fahren«, sagte sie kurz angebunden und wischte sich mit einer Hand die Tränen weg. Am Steuer ihres Bentleys zu sitzen war eine ihrer Lieblingsbeschäftigungen.
»Geht es den beiden wirklich gut, Charlie? Warum können sie dann nicht sofort nach Hause kommen?«, fragte sie mit zitternder Stimme.
Fünf Minuten später hatte sich Nina ein wenig beruhigt, und ihre Wangen hatten wieder Farbe angenommen. Sie legte den Hörer auf. Inzwischen wagte sich auch Suzie Wong wieder aus ihrem Versteck und leckte nun die Sahne von dem zerbrochenen Porzellan. Nina nahm das kleine Fellbündel in die Arme und drückte es an sich. Erneut traten ihr Tränen in die Augen.
»Mr Kingsford hätte Ihnen niemals gesagt, dass es Miss Joanna und Mr Rick gut geht, wenn es nicht stimmen würde«, beteuerte Jackie. Sie ahnte, dass Nina im Begriff war, sich in einen hysterischen Anfall hineinzusteigern.
Manchmal fragte sie sich, ob Nina überhaupt begriff, wie sehr Mr Kingsford sie liebte und wie er sie gegen die raue Wirklichkeit des Lebens abschirmte.
»Kommen Sie, am besten Sie duschen jetzt erst einmal schön heiß.« Jackie legte Nina einen Morgenmantel aus elfenbeinfarbenem Satin um die Schultern und schob sie ins Bad.
Eine Dreiviertelstunde später entstieg Nina auf dem Gelände des Prince-of-Wales-Krankenhauses ihrem silberfarbenen Bentley. Sie war in ein elegantes, osterglockengelbes Wollkostüm gekleidet, darüber trug sie lässig einen kurzen Kunstpelzmantel mit Leopardenmuster. Ein bauschiger, gelb und elfenbein gemusterter Schal, den sie im Stil von Prinzessin Gracia von Monaco um ihr weiches braunes Haar und ihren Hals geschlungen hatte, rundete die Aufmachung ab.
Charlie kam ihr aus der Notaufnahme entgegengeeilt. Wieder einmal war er froh, dass es Jackie gab. Da er die schwankenden Stimmungen seiner Frau kannte, hatte er befürchtet, sie könnte auf der Fahrt ins Krankenhaus die Nerven verlieren und in einen Unfall verwickelt werden. Aber dank Jackies vernünftiger Art war sie viel ruhiger geworden. Wie immer sah Nina hinreißend aus. Hinreißend und hilflos. Charlie hakte seine Frau unter, begleitete sie in den Warteraum der Notaufnahme und forderte sie auf, Platz zu nehmen.
»Wir müssen abwarten, was der Arzt sagt«, begann er, streichelte sanft ihre Finger und musterte sie eindringlich. Allmählich hörte man ihm die Erschöpfung an, denn es war ein langer und von Angst und Sorge geprägter Vormittag gewesen. »Dann holen wir sie nach Hause. Jackie wird dir bei der Krankenpflege helfen, aber du schaffst das schon. Sie brauchen nur Ruhe.«
Da Nina nun Charlie endlich an ihrer Seite wusste, war es um ihre Selbstbeherrschung schlagartig geschehen, und sie wurde erneut von Furcht und Entsetzen ergriffen. Sie presste die Hände vor die Augen, um zu verhindern, dass ihr die Tränen die Wangen hinunterliefen und ihr Make-up ruinierten, und sah ihren Mann an.
»Sind sie … ich meine, wie schwer sind sie …?«, stammelte sie mit zitternder Unterlippe.
»Sie haben ein paar Kratzer und Schrammen abgekriegt, und Jo musste sich eine Wunde an der Stirn nähen lassen. Aber das heilt wieder.«
Nina stieß einen Entsetzensschrei aus.
»Um Himmels willen, ihr Gesicht! Sie soll doch Fotomodell werden.« Ihre Angst verwandelte sich schlagartig in Wut, als sie ungläubig den Kopf schüttelte und Charlie am Ärmel packte. »Das hätte nicht passieren dürfen! Du weißt doch, wie sehr ich dagegen bin, dass die beiden sich auf dieser grässlichen Rennbahn herumtreiben. Warum hast du ihnen erlaubt zu reiten? Warum hörst du nie auf mich?«
Charlies Miene verfinsterte sich. »Darüber können wir später sprechen«, entgegnete er leise.
»Warum später und nicht jetzt?«, rief Nina laut.
Ihre Finger bohrten sich in den Stoff seiner Jacke, ihre Brust hob und senkte sich. Die Tränen strömten ihr über die Wangen.
Eine Krankenschwester blieb stehen.
»Kann ich etwas für Sie tun?«, fragte sie.
Charlie bat sie mit einem Kopfschütteln zu gehen. Diese Unterbrechung war für Nina eine willkommene Ablenkung. Abrupt entriss sie Charlie ihre Hand und starrte ihn anklagend an. Ihre Wimperntusche war vom Weinen verschmiert.
»Wie konntest du nur?«, wiederholte sie. »Sind deine Kinder dir etwa gleichgültig? Oh, mein Gott. Warum sitze ich eigentlich noch hier? Wo sind sie? Ich muss zu ihnen.«
Ohne nachzudenken, sprang sie auf und hastete den Flur entlang, ihre hohen Absätze klapperten auf dem grauen Linoleum.
Mit zwei langen Schritten hatte Charlie sie eingeholt, und sie sackte gegen ihn. Er nahm sie in die Arme und liebkoste ihr weiches braunes Haar, von dem der Seidenschal heruntergerutscht war. Ihre Reaktion machte es ihm nicht leicht, Ruhe zu bewahren, denn seit dem Augenblick des Unfalls zermürbte er sich mit ganz ähnlichen Vorwürfen. Ninas Schultern bebten, und heisere Schreie stiegen aus ihrer Kehle auf. Sie zitterte am ganzen wohlgeformten Körper wie Espenlaub, und der schwere Moschusduft des teuren Parfüms, der von ihr ausging, wirkte in der sterilen Krankenhausatmosphäre völlig fehl am Platz.
»Du bist ein Kind in einem wunderschönen, erotischen Körper, der mich noch immer anzieht«, schoss es ihm durch den Kopf. Er hatte nie etwas anderes von Nina erwartet und liebte sie abgöttisch. Und er wusste von Anfang an, dass er das erwachsene Element in ihrer Ehe sein musste.
»Im Moment ruhen sie sich beide aus, Neene«, sagte er leise. Ihre Schluchzer verebbten allmählich, und sie schniefte nur noch hin und wieder. Er ließ sie los und griff nach ihren Händen. Während er diese fest umfasst hielt, schilderte er ihr in knappen Worten die Verletzungen der Zwillinge.
»Rick ist so frech wie eh und je, auch wenn er ein wenig über die Schmerzen klagt. Aber Jo fühlt sich noch leicht benommen. Sie mussten ihr unter Narkose die Schulter einrenken. Wenn die Fäden erst gezogen sind, ist sie wieder wie neu«, schloss er im Brustton der Überzeugung.
Allerdings behielt er Nina gegenüber lieber für sich, welche Sorgen er sich gemacht hatte. Er wagte erst, seine Frau anzurufen, als feststand, dass die Zwillinge nicht mehr in Lebensgefahr schwebten.
Rick hatte sich bemerkenswert schnell von seinem schweren Sturz erholt und war zu Charlies großer Erleichterung bereits im Krankenwagen wieder zu sich gekommen, obwohl er noch flach atmete und offensichtlich große Schmerzen litt. Er hatte sich nicht nur die Nase, sondern auch das Schlüsselbein und drei Rippen gebrochen. Außerdem litt er unter einer Art Schleudertrauma. Charlie empfand es immer noch als ein Wunder, dass Rick nicht von dem Pferd zerquetscht worden war.
Allerdings war Jo in den Augen der Ärzte noch nicht über den Berg. Sie hatte sich die Schulter ausgerenkt und das rechte Handgelenk verstaucht. Zudem bestand die Möglichkeit, dass die Verletzung an ihrem Kopf mit inneren Blutungen verbunden war. Die Reitkappe hatte zwar den Großteil des Aufpralls abgefangen, doch der tiefe Riss und der Bluterguss zeigten, dass sie ziemlich heftig mit dem Kopf aufgeschlagen war. Als Charlie die noch stark benommene Jo allein ließ, um sich auf die Suche nach Nina zu machen, hatte der Stationsarzt sich gerade vergewissert, dass keine Verschlechterung ihres Zustandes eingetreten war. Beide Zwillinge mussten in den nächsten Stunden aufmerksam beobachtet werden.
Nina zog ihre Hände weg und putzte sich mit einem zarten, spitzengesäumten Taschentuch die Nase. Ihre dunklen Augen funkelten Charlie wütend an.
»Immer wieder predige ich dir, dass du sie nicht auf deinen elenden Pferden reiten lassen sollst. Schließlich beschäftigen wir dazu Bereiter«, schniefte sie, wischte sich die verschmierte Wimperntusche weg und zupfte ihren Schal zurecht. Nachdem sie ihr glänzendes Haar zurückgestrichen hatte, band sie den Schal im Nacken zu einem Knoten. »Habe ich bei deinen Jockeys nicht schon genug Unfälle erlebt?«
Mit einem Seitenblick auf Charlie begann Nina, an ihren langen roten Nägeln herumzuzupfen. Ihre Hände zitterten heftig.
»Ich wusste, dass so etwas irgendwann passieren wird. Wenn sie …« Die Worte blieben ihr im Halse stecken, und wieder traten ihr Tränen in die Augen. »… das würde ich dir nie verzeihen«, flüsterte sie mit heiserer Stimme.
Charlie strich über die Wange seiner Frau und sprach leise auf sie ein, als rede er mit einem Kind.
»Neene, mein Liebling, es geht ihnen gut. Sie werden gesund, das verspreche ich dir. Du musst dich nur beruhigen. Dann kommt alles wieder in Ordnung.«
Wenigstens war es ihm gelungen, einen hysterischen Anfall abzuwenden. Er sah auf die Uhr. Bis zu seiner Sitzung hatte er noch ein wenig Zeit.
»Und jetzt pudere dir dein hübsches kleines Näschen, damit wir hineingehen und nach ihnen schauen können. Jo und Rick brauchen ihre Mutter im Moment ganz besonders.«
Nina schnäuzte sich erneut.
»In Krankenhäusern wird mir immer ganz mulmig«, meinte sie schniefend. Rasch holte sie eine Puderdose aus ihrem winzigen henkellosen Handtäschchen und kontrollierte ihr Gesicht im Spiegel.
»Ich sehe zum Fürchten aus.«
Äußerlich gelassen, wartete Charlie ab, bis sie ihre Lippen mit Lippenstift in einem warmen Pfirsichton betupft und einen Hauch von Puder auf ihre Nase aufgetragen hatte. Zu guter Letzt besprühte sie sich mit einer großzügigen Portion Parfüm. Nachdem sie mit einem letzten Aufschluchzer ihren Mantel zusammengerafft hatte, machten sie sich auf den Weg zu den Zwillingen.
Durch einen Nebel von Betäubungsmitteln nahm Jo nur undeutlich wahr, dass sie einen Flur entlanggeschoben wurde. Es roch nach Desinfektionsmittel, sie spürte kaltes Metall auf der Haut, und dauernd stellte man ihr Fragen, während sie immer wieder wegdämmerte. Sie erinnerte sich, dass die Schmerzen plötzlich nachgelassen hatten, ehe sie erneut in einem Betäubungsschlaf versank, damit man ihr die Schulter einrenken konnte. Einmal vermeinte sie, das Parfüm ihrer Mutter zu riechen.
Als sie nun die Augen aufschlug und sich umsah, fragte sie sich zunächst, ob sie das alles nur geträumt hatte. Sie lag unter einer blauen Krankenhausdecke auf einer mit Kunststoff bezogenen Liege in einem winzigen Raum. Unter ihrem Kopf befand sich ein Kissen, und die hellgrünen Vorhänge rund um das Bett waren zugezogen. Ihr rechtes Handgelenk war fest bandagiert, ihr Arm hing in einer Schlinge. Kopf und Schulter pochten gnadenlos. Am Fußende des Bettes stand ein junger Krankenpfleger und studierte ihre Akte.
»Willkommen unter den Lebenden. Wie fühlen Sie sich?«
»Nicht gut«, murmelte Jo. »Ich glaube, mir wird schlecht.«
Der Pfleger hielt ihr eine hellgrüne, nierenförmige Schale unters Kinn, und Jo würgte, bevor sie wieder zurück aufs Kissen sank und abwartete, dass die Welt aufhörte, sich zu drehen. Ihre Schulter fühlte sich an wie mit einer rot glühenden Eisenstange durchbohrt.
»Wie geht es meinem Bruder?«, fragte sie besorgt.
»Der Arzt kommt gleich zu Ihnen«, erwiderte der Pfleger, nahm die Schale weg und strich ihre Bettdecke glatt. Im nächsten Moment teilten sich die Vorhänge, und ein Arzt in weißem Kittel erschien.
»Na, junges Fräulein, wie geht es Ihnen? Wir haben uns große Sorgen um Sie gemacht.«
»Mir tut der Kopf weh, und außerdem ist mir übel. Wie geht es Rick?«, beharrte Jo, deren Benommenheit sich allmählich legte.
»Der ist schon wieder putzmunter«, antwortete der Arzt. Er hob Jos Augenlider an, um ihre Pupillen zu begutachten. »Können Sie mir sagen, wie Sie heißen?«
»Joanna Kingsford.«
»Und welchen Wochentag haben wir heute?«
»Mittwoch?«, entgegnete sie fragend.
»Gut. Und wenn Sie jetzt bitte an diesem Fuß mit den Zehen wackeln könnten.«
Jo gehorchte.
»Was ist mit meinem Bruder?«, wiederholte sie, und ihre Angst wuchs. »Warum behandeln mich alle hier wie ein Kleinkind?«
»Wir wollen uns erst vergewissern, dass Sie wieder auf dem Damm sind«, gab der Arzt ruhig zurück. »Können Sie das spüren?«
Er fuhr mit dem Daumennagel die Außenseite von Jos Fuß entlang, sodass dieser ruckartig zurückfuhr.
»Autsch! Wo ist Rick? Wird er wieder reiten können? Mein Pferd ist gestürzt …« Die Worte blieben ihr in der Kehle stecken, und zu ihrem Ärger wurden ihr die Augen feucht, als sie den Unfall noch einmal Revue passieren ließ. Rick konnte doch unmöglich unverletzt geblieben sein!
»Tut mir leid.« Der Arzt wiederholte die Prozedur an Jos anderem Fuß. »Ihr Bruder ist schwer gestürzt und wird noch eine Weile Schmerzen beim Atmen haben, aber ich würde sagen, er ist über den Berg. Vorhin hat er sich sogar im Bett aufgesetzt und etwas zu essen verlangt«, fuhr er fort, während er die übrigen Reflexe überprüfte. »Ich weiß nicht, welcher Schutzengel ihm beigestanden hat, aber er hatte wirklich großes Glück. Vielleicht liegt es daran, dass er eine Schwester hat wie Sie, die sich Sorgen um ihn macht.« Als er Jo schmunzelnd den Puls fühlte, erwiderte diese das Lächeln. »Wir geben Ihnen etwas gegen die Kopfschmerzen.«
»Mein Genick fühlt sich auch ziemlich komisch an«, sagte Jo.
»Sie haben einen recht heftigen Schlag abgekriegt, und es wird eine Weile wehtun. Aber Sie sind jung und gut in Form. Wie alt sind Sie denn?«
»Sechzehn.«
Er nickte dem Pfleger zu, der noch immer am Fußende des Bettes wartete. Der Miene des Arztes war nichts zu entnehmen. An der Aufmerksamkeit des Mädchens gab es zwar nichts auszusetzen, doch die Schmerzen in Kopf und Nacken gefielen ihm gar nicht.
»Geben Sie ihr ein paar Schmerztabletten. Ich werde mir die Röntgenbilder noch einmal ansehen.«
Nachdem der Pfleger dem Arzt den großen ockergelben Umschlag gereicht hatte, verschwand er durch die Vorhänge.
»Nein. Sieht alles prima aus«, stellte der Arzt fest, während er die Röntgenaufnahmen betrachtete. »Ruhen Sie sich einfach aus. Wir schauen in einer Stunde wieder nach Ihnen.«
Er legte den Umschlag aufs Fußende des Bettes und ging. In diesem Moment stürmte Nina, dicht gefolgt von Charlie, durch die Vorhänge.
»Oh, Joanna, mein liebes Kind«, rief sie und stürzte auf das Bett zu. »Vorhin hast du noch geschlafen, und Daddy wollte dich nicht stören.« Sie machte Anstalten ihre Tochter an sich zu drücken, hielt aber inne, als sie sah, dass Jo den Arm in der Schlinge trug. Beim Anblick der hässlichen Beule auf Jos Stirn und der schwarzen Fäden, die sich deutlich von der mit bräunlichem Desinfektionsmittel eingepinselten Haut abhoben, traten ihr die Tränen in die Augen.
»Dein Gesicht, mein Kind! Ach, um Himmels willen! Das ist ja noch viel schlimmer, als Dad gesagt hat. Oh, du armes, armes Lämmchen.« Sie beugte sich vor und hauchte rasch einen Kuss in die Luft, dicht über Jos linker Wange. Dann drehte sie sich zu Charlie um und presste sich ihr Taschentuch an die zitternde Unterlippe. »Charlie, bist du sicher, dass keine Narbe zurückbleiben wird?«
»Was redest du da, Frau? Es ist doch nur ein Kratzerchen«, erwiderte Charlie fröhlich, da er erkannte, welche Wirkung Ninas Bemerkung auf Jo hatte. Also grinste er seiner Tochter zu und drückte ihre heile Hand. Er war nicht nur froh, dass Jo wieder bei Bewusstsein war, sondern auch erleichtert, denn die Röntgenaufnahmen waren bei beiden Geschwistern ohne Befund gewesen. Jo lächelte ihren Vater zögernd an.
»Aber eins sage ich dir: Heute war dein letzter Tag auf der Rennbahn. Du hast uns beiden einen ordentlichen Schrecken eingejagt«, fügte Charlie in gespielter Strenge hinzu.
Jos Miene verdüsterte sich.
»Das meinst du doch nicht ernst, Dad?« Ihre violetten Augen leuchteten aus dem blassen ovalen Gesicht. Ängstlich sah sie ihren Vater an.
»Nun, warten wir einfach ab«, erwiderte er, plötzlich ernüchtert.
Er hatte nicht so endgültig klingen wollen. Schließlich wusste jeder, dass es nach einem Sturz das Beste war, den Betroffenen so bald wie möglich wieder auf ein Pferd zu setzen. Doch Charlie, der an diesem Tag beinahe seine beiden Kinder verloren hatte, war sich nicht mehr so sicher. Außerdem traute er dem Frieden noch nicht ganz: Die Zwillinge machten inzwischen zwar wieder einen recht fidelen Eindruck, aber der Arzt wollte sie noch eine Weile weiter beobachten, um auf Nummer sicher zu gehen.
»Dad, ist Rick wirklich in Ordnung?«, fragte Jo, die die bedrückte Miene ihres Vaters bemerkte.
»Bis auf einen Schlüsselbeinbruch, einen Nasenbeinbruch und ein paar angeknackste Rippen ist ihm nichts passiert«, antwortete Charlie und war froh, dass das Thema Bahnarbeit für den Moment abgeschlossen zu sein schien. »Warum sprichst du nicht selbst mit ihm?«, fügte er hinzu und drehte sich um, als Rick durch den Vorhang kam.
Er hatte dunkelviolette Blutergüsse unter den Augen und ein Pflaster auf der Nase. Sein rechter Arm hing – wie der seiner Schwester – in einer Schlinge.
»Simulierst du immer noch, Schwesterherz?«, witzelte Rick, doch der Schmerz in seinen Augen strafte sein freches Grinsen Lügen. »Schließlich war ich derjenige, der die Ärzte und Sanitäter richtig auf Trab gehalten hat.«
Jo drängte die Tränen der Erleichterung zurück und schenkte ihrem Bruder ein schiefes Lächeln.
»Wenigstens hast du dir das Gesicht noch mehr verunstaltet als ich«, gab sie zurück und fühlte sich gleich besser. Wenn Rick bereits wieder in der Lage war, sie zu hänseln, konnte es nicht so schlimm um ihn stehen.
»Was ist mit Bella?«, erkundigte sich Jo mit einem Blick auf ihren Vater.
Charles schwieg zunächst.
»Wir mussten sie leider einschläfern lassen«, antwortete er dann. »Jack hat das erledigt. Es ging ganz schnell.«
Jo spürte einen Stich tief im Herzen.
»Du sollst dir dein Köpfchen nicht mehr über diese grauenhaften Rennpferde zerbrechen, Liebes«, mischte sich Nina ein.
Jo konnte die Tränen nicht länger zurückhalten. Wie konnte ihre Mutter nur so etwas Schreckliches sagen? Rasch wandte sie sich ab. Die arme Bella. Sie war so ein tapferes, kluges Pferd gewesen – geschickt genug, um Rick beim Sturz nicht zu zertrampeln. Jo wischte die Tränen weg, drehte sich um, schob die Decke beiseite, setzte sich auf und schwang die Beine vorsichtig über die Bettkante.
»Was sollen wir noch länger hier herumliegen? Lass uns gehen, Rick«, meinte sie mit leicht zitternder Stimme.
»Ich würde ja gern. Aber dieser Typ da erlaubt es nicht«, erwiderte Rick mit einem Grinsen und wies auf den Krankenpfleger, der hinter ihm erschienen war. Seine fröhliche Antwort hatte die Stimmung ein wenig aufgelockert.
»Ich würde euch am liebsten rausschmeißen, Leute, wenn da nicht die Oberschwester wäre«, entgegnete der Pfleger, reichte Jo zwei weiße Tabletten und zog die Vorhänge zurück. Dann lächelte er Nina und Charlie entschuldigend zu.
»Die beiden können heute am späten Nachmittag entlassen werden. Patienten mit Verdacht auf Kopfverletzungen behalten wir stets vier bis sechs Stunden auf der Station.«
»Wer spricht da von einer Kopfverletzung, Kumpel? Das da ist massives Holz«, protestierte Rick und klopfte sich mit der Faust gegen den Schädel. Im nächsten Moment verzog er das Gesicht. »Trotzdem danke für die Information«, fügte er hinzu und ließ sich schwer auf einen freien Stuhl fallen.
»Keine Ursache«, erwiderte der Pfleger und trollte sich.
Charlie warf einen Blick auf die Uhr: kurz vor eins. Er rieb sich die Hände.
»Nun denn! Wenn man vernachlässigt, dass ihr ausseht wie nach einer ordentlichen Prügelei, scheint alles noch einmal gut gegangen zu sein. Da ihr offenbar schon wieder fähig seid, Unruhe zu stiften, überlasse ich euch am besten eurer Mutter, damit sie euch die Hammelbeine langzieht.«
Die Zwillinge fingen an zu lachen, aber Nina zog die Augenbrauen hoch.
»Nun reg dich nicht gleich wieder auf, Neene. Ich habe schon seit Ewigkeiten eine Verabredung mit einem Burschen, der extra aus Brisbane angereist kommt.«
Nina wollte protestieren, denn der Zwischenfall hatte sie sehr mitgenommen. Außerdem war sie noch immer ziemlich wütend auf Charlie.
»Nein, Mum, uns geht es wirklich prima«, beteuerte Rick rasch, als er bemerkte, dass seine Eltern Blicke wechselten. »Ich fühle mich viel besser, und Jo auch, oder?«
Jo nickte. »Der Arzt sagt, mit meinen Rippen kann ich nichts weiter tun als abwarten. Und eine gebrochene Nase macht mein Gesicht nur interessanter.« Die Schmerzen in der Brust hinderten ihn am Lachen.
Nina gefiel die Vorstellung nicht, allein mit den Zwillingen im Auto nach Hause zu fahren.
»Uns geht es wirklich gut, Mum«, wiederholte Jo.
»Außerdem hat Sam bestimmt kein Frühstück bekommen«, sprach Rick weiter. »Der arme alte Junge fragt sich sicher, wo wir bleiben. Ich nehme an, du hast ihn nicht gefüttert, oder, Mum?«
Der dreizehnjährige Golden Retriever, ein Geschenk zum dritten Geburtstag der Zwillinge, war schon immer Ricks Hund gewesen. Jeden Morgen lag er, die Schnauze zwischen den Pfoten, an seinem Lieblingsplatz auf den breiten, gefliesten Verandastufen des Hauses in Cogee und beobachtete Rick mit einem seelenvollen Blick aus seinen samtig braunen Augen, wenn die Zwillinge zur Arbeit auf der Rennbahn aufbrachen. Bis zu Ricks Rückkehr konnte nichts Sam von der Veranda weglocken, und wenn sein Herrchen endlich wieder erschien, geriet der Hund vor Freude völlig außer Rand und Band. Wild mit dem Schwanz wedelnd, ließ er sich von Rick tätscheln, und jeden Morgen bestand die erste Handlung des Jungen darin, Sam zu füttern.
»Du erwartest doch nicht ernsthaft, dass ich nach allem, was euch passiert ist, an den Hund denken würde!«, rief Nina.
Charlie küsste Jo rasch auf die Wange.
»Pass auf deine Mutter auf«, flüsterte er und steuerte auf die Tür zu.
Aber Nina rannte ihm nach.
»Verdammt, du darfst jetzt nicht einfach gehen, Charlie«, zischte sie und versuchte keuchend, mit seinen langen Schritten mitzuhalten.
»Doch.« Er ging schneller. »Der Arzt sagt, dass die beiden wieder in Ordnung kommen. Der Stammbaum dieses Pferdes aus Brisbane ist es wert, sich das Tier genauer anzusehen. Insbesondere deshalb, weil ich gerade eine gute Zuchtstute verloren habe.« Auch Charlie atmete schwer. »Ich bin ohnehin schon zu spät dran. Die Oberschwester meint, du kannst die Kinder nach der nächsten Visite des Arztes mitnehmen. Sorge einfach nur dafür, dass sie sich ausruhen. Schließlich hast du Jackie. Wenn dir etwas merkwürdig vorkommt, bring sie auf dem schnellsten Weg wieder ins Krankenhaus. Und für alle Fälle gebe ich dir das hier.«
Er zog ein Bündel Banknoten aus der Tasche und drückte es Nina in die Hand. Bevor sie etwas erwidern konnte, war die Tür bereits hinter ihm zugefallen.
Zornig starrte Nina den menschenleeren Flur entlang.
»Pferde, immer nur die gottverdammten Pferde! Die kommen bei ihm an erster Stelle und das« – sie schwenkte die Geldscheine – »soll alles regeln!«, tobte sie.
Sie wusste, dass sie ungerecht war, denn schließlich verdiente Charlie mit den Pferden den Lebensunterhalt der Familie. Und Nina liebte das Luxusleben, das sie führten, und wusste, dass er ihr mit dem Geld eine Freude machen wollte. Aber der Unfall hätte nie passieren dürfen!
Sie stopfte die Geldscheine in die Handtasche und kehrte ins Krankenzimmer zurück.
»Den Laden siehst du nicht wieder«, sagte Rick, der hinten im Bentley saß, und schnippte mit dem Finger gegen die Karte, auf der die genauen Verhaltensregeln für Patienten mit einer Kopfverletzung standen.
Der Wagen verließ das Krankenhausgelände und fuhr in Richtung Cogee. Diese vorgedruckten Karten wurden vorschriftsmäßig an alle entlassenen Patienten verteilt, die einen – auch noch so leichten – Schlag auf den Schädel abbekommen hatten. Rick studierte die Hinweise und versuchte dabei, nicht auf seine schmerzenden Rippen zu achten. Kopfschmerzen, Sehstörungen, Brechreiz ... Er warf die Karte auf den Sitz neben den Mantel seiner Mutter und dachte an Sam.
Jo lehnte sich im Beifahrersitz zurück und genoss die warme Nachmittagssonne, die durch die Autoscheiben strömte.
»Sam wird sich freuen«, meinte sie, als hätte sie Ricks Gedanken gelesen.
Die Wirkung des Betäubungsmittels ließ inzwischen nach, und dank der Schmerztabletten taten Kopf und Schulter nicht mehr so weh, aber sie fühlte sich unendlich müde. Außerdem hatte sie wieder dieses merkwürdige Gefühl im Nacken.
»Ist bei dir dahinten alles in Ordnung, Rick?«, fragte Nina barsch und warf einen kurzen Blick in den Rückspiegel.
Sie hatte ihren Schal wieder um den Kopf geschlungen, und ihre Hände umklammerten das Lenkrad. Immer noch war sie Charlie wegen seines abrupten Aufbruchs böse. Außerdem belastete sie plötzlich die Verantwortung, die Zwillinge ganz allein nach Hause zu bringen. Dass Jackie für sie da sein würde, sobald sie durch das schmiedeeiserne Tor fuhren, half ihr im Moment wenig.
Jos viel zu bleiches Gesicht, die eindringlichen Warnungen der Oberschwester und diese entsetzlichen Karten mit den Verhaltensregeln trugen nicht unbedingt dazu bei, Ninas Befürchtungen zu zerstreuen. Zum ersten Mal im Leben fuhr sie überaus vorsichtig und langsam, ging schon lange vor jeder Ampel vom Gas, um die Zwillinge keiner Erschütterung auszusetzen, und kroch um jede Kurve, ohne auf das Hupkonzert und die Beschimpfungen der anderen ungeduldigen Autofahrer zu achten. Allerdings war Nina trotz der geschlossenen Scheiben bald mit den Nerven am Ende.
»Blödmann«, schimpfte sie und beschleunigte, als ein Wagen versuchte, sie zu schneiden. Sie fragte sich, ob sie in diesem Tempo jemals zu Hause ankommen würden, und fuhr ein bisschen schneller.
»Du hast doch verstanden, was dein Vater vorhin gesagt hat, Joanna? Mit diesem albernen Quatsch von wegen Arbeiten auf der Rennbahn ist für dich endgültig Schluss.«
Schlaftrunken murmelte Jo eine Antwort.
»Jo! Hör mir zu, wenn ich mit dir rede. Auch wenn dein Vater das vorhin witzig gemeint hat, ist es mir ernst. Ein Glück, dass dein gutes Aussehen bei diesem Unfall nicht gelitten hat. Modelagenturen nehmen nämlich nicht einfach jede.«
Gereizt setzte sie den Blinker, um von der Hauptstraße abzubiegen, musste aber feststellen, dass der Verkehr umgeleitet wurde.
»Eine geplatzte Wasserleitung. Das hat mir gerade noch gefehlt«, rief sie, klopfte mit den Fingernägeln aufs Lenkrad und machte ihrer Ungeduld mit unablässigem Geplapper Luft. »Und auch wenn dein Vater das anders sieht, weiß ich genau, dass du von dieser genähten Wunde für den Rest deines Lebens eine Narbe zurückbehalten wirst. Zum Glück habe ich gute Beziehungen. Nein, mein Kind, ab sofort wirst du dich auf den Ponyclub und aufs Dressurreiten beschränken, wenn du von Pferden nicht die Finger lassen kannst. Du wirst dich endlich benehmen wie eine Dame.«
»Ja, Mum«, erwiderte Jo und wünschte, ihre Mutter würde endlich den Mund halten.
Das aufmerksame Zuhören verschlimmerte ihre Kopfschmerzen, und sie hatte nicht die Kraft, sich zu streiten. Stattdessen beobachtete sie, wie die weißen Schäfchenwolken über den kobaltblauen Himmel zogen. Als der Verkehr auf der anderen Fahrbahn ebenfalls ins Stocken geriet, nahm Nina ihre Tirade wieder auf.
»Ach, Mum, lass sie in Ruhe«, sagte Rick. »Schließlich war es nicht ihre Schuld, dass das Pferd durchgegangen ist.«
»Rick, du hältst dich da raus. Immerhin hast du den Unfall verursacht«, fuhr sie ihn an. »Wenn du besser aufgepasst hättest, wärst du nicht vom Pferd gefallen, und diese ganzen Scherereien wären uns erspart geblieben.«
»Oh, Mum, das ist nicht fair«, sprang Jo sofort für ihren Bruder in die Bresche. »Ricks Pferd war sehr schwierig, und er hat sich wacker geschlagen.«
»Ihr müsstet euch beide reden hören. Wenn das Pferd schwierig war, hätte er es nicht reiten dürfen. Euer Vater hat keinen Funken Verstand. Wie oft habe ich ihm schon gepredigt, ich möchte nicht, dass ihr euch in der Nähe der Pferde herumtreibt, und das gilt auch für dich, Rick. Ich habe genug von diesem Unsinn. Bertie ist der einzige Vernünftige von euch.«
Unvermittelt trat Nina auf die Bremse und wäre fast auf den Wagen vor ihr aufgefahren.
»Hoppla! Entschuldigt bitte.«
Oh nein, was für ein Schlamassel. Wie waren sie nur wieder auf der Anzac Parade in nördlicher Richtung gelandet? Und wo kam plötzlich der viele Verkehr her? Eigentlich hätte die Heimfahrt nicht länger als zehn Minuten dauern sollen.
»Wenn du schon so neunmalklug bist, Rick, könntest du mir auch verraten, wie wir nach Hause kommen.« Die Autos fuhren nun wieder mit normaler Geschwindigkeit. »Rick! Antworte, wenn ich mit dir spreche, und hör mit dem albernen Gegrunze auf!«
Im nächsten Moment hatte die Panik Nina und Jo fest im Griff. Während Nina rasch in den Rückspiegel blickte, drehte Jo sich ruckartig in ihrem Sitz um. Ihr Puls raste vor Angst, und wegen der plötzlichen Bewegung schoss ihr ein scharfer Schmerz durch die Schulter. Rick lehnte leichenblass und zusammengesackt am Fenster. Ohne auf ihre eigenen Schmerzen zu achten, kletterte Jo auf den Rücksitz und rüttelte Rick heftig am Knie.
»Rick! Wach auf und rede mit mir!« Aber Rick reagierte nicht. Jo schüttelte ihn erneut, wieder vergebens. Sein Atem ging unregelmäßig und stoßweise.
»Mum! Mum! Halt an!«, schrie Jo. »Mit Rick stimmt etwas nicht. Er muss zurück ins Krankenhaus.« Sie zitterte am ganzen Leib und war völlig ratlos.
»Ich kann nirgendwo anhalten«, rief Nina. Sie war mitten im Wechsel auf die Überholspur und wagte nicht, den Blick von der Straße abzuwenden.
»Rick, bitte, antworte mir! Mach die Augen auf«, flehte Jo und schüttelte ihn weiter. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Ricks Augen blieben geschlossen, und er machte beim Atmen beängstigend gurgelnde Geräusche.
»Mum! Du musst umkehren. Fahr rüber auf die rechte Spur, warte auf eine Lücke im Verkehr und dann wende einfach auf die Gegenfahrbahn«, befahl Jo. »Gleich nach diesem grünen Laster müsste es klappen.«
Hektisch riss Nina den Wagen herum.
»Verschwinde, du blöde Kuh!«, brüllte ein Fahrer, den Nina in ihrer Panik übersehen hatte und der sich rasch von links näherte. Nina lenkte gerade noch rechtzeitig zur Seite, um einen Zusammenstoß zu vermeiden. Ihre schweißnassen Hände rutschten vom Lenkrad.
»Kümmere dich nicht um ihn, Mum!«, rief Jo. »Okay, ich sage dir, wann du wenden kannst. Nach dem weißen Auto. Jetzt, Mum, jetzt! Los!«
Während Jo Rick festhielt, drückte Nina fest auf die Hupe, wendete und gab Gas.
Die nächste Viertelstunde war die schlimmste in Jos Leben. Während Nina zurück zum Krankenhaus raste, immer wieder die Spur wechselte, anderen Wagen auswich und rote Ampeln ignorierte, versuchte Jo zu verhindern, dass Rick im Auto herumgeschleudert wurde. Inzwischen war sein Kopf gegen die Lehne gesackt, und sein Atem klang immer gepresster und flacher.
Nina raste durch die Einfahrt des Prince-of-Wales-Krankenhauses und bremste mit quietschenden Reifen vor dem Eingang der Notaufnahme. Der Geruch von verbranntem Gummi wehte durch die Luft. Jo sprang aus dem Fahrzeug, noch ehe es richtig stand. Nachdem sie ihrer Mutter zugerufen hatte, sie solle bei Rick bleiben, ihn aber auf keinen Fall bewegen, hastete sie nach Hilfe rufend ins Gebäude.
Wenige Sekunden später war sie mit zwei Pflegern zurück, die eine klappernde Trage schoben und ihr eilig zum Wagen folgten. Jo musste den beiden Männern helfen, Ricks schlaffen Körper aus dem Bentley auf die Trage zu heben und ihn durch die Schwingtür zu rollen. Nina folgte ihnen, auf ihren hohen Absätzen schwankend.
»Verletzter mit Code null, Verletzter mit Code null«, verkündete die Schwester am Empfang über Lautsprecher. Das bedeutete, dass sich alle Ärzte und Schwestern auf der Etage sofort in der Notaufnahme melden sollten. Drei Schwestern, der Chefarzt und ein junger Assistenzarzt rannten ihnen auf dem Flur entgegen. Mit angehaltenem Atem sah Jo zu, wie die Pfleger die Trage in den Wiederbelebungsraum brachten. Angst stieg in ihr hoch, als Rick plötzlich Krämpfe bekam und sich auf der Trage aufbäumte.
»Akuter Krampfanfall«, stellte der Assistenzarzt fest.
»Atemstillstand«, rief eine der Krankenschwestern.
»Wir müssen intubieren«, wies der Chefarzt an und übernahm das Kommando. »Geben Sie mir einen Luftröhrentubus Größe sieben. Dr. Taylor, legen Sie eine Infusion.«
Er leuchtete Rick mit einer Taschenlampe in die Augen.
»Verdammt, eine Pupille ist geplatzt. Jemand soll einen Neurochirurgen verständigen.« In heller Angst beobachteten Jo und Nina, wie der nervöse Assistenzarzt sich an der Infusionsflasche zu schaffen machte.
»Es wäre besser, wenn Sie draußen warten«, meinte eine Krankenschwester mit Nachdruck und schob Mutter und Tochter in den Aufenthaltsraum. Währenddessen wurde der Patient an die Beatmungsmaschine und an den Herzmonitor angeschlossen.
In dem stickigen Aufenthaltsraum ging Nina auf und ab, spielte mit ihren langen Nägeln und plapperte unablässig über aggressive Autofahrer und Verkehrsstaus. Jo starrte verzweifelt auf die zerfledderten Zeitschriften auf dem Couchtisch, ohne sie wirklich zu sehen. Waren sie wirklich schnell genug ins Krankenhaus zurückgekehrt? Warum war Rick im Auto so plötzlich zusammengebrochen? Sie versuchte, mit ihrer Mutter darüber zu sprechen, aber Nina hörte gar nicht zu.
»Ich muss deinen Vater anrufen«, verkündete sie im nächsten Moment und durchwühlte ihr Handtäschchen nach dem Notizbuch. Sie hatte keine Ahnung, wo er gerade steckte. Sie öffnete die Tür und wäre beinahe mit einer Schwester zusammengestoßen, die ein Tablett mit Tee und Plätzchen trug.
»Ich muss telefonieren«, herrschte Nina sie an und zückte einen Fünfzigdollarschein.
»Am Empfang gibt es ein Telefon, Mrs Kingsford«, entgegnete die Schwester, ohne auf das Geld zu achten.
Als Nina fort war, ballte Jo immer wieder ihre unverletzte Hand zur Faust und öffnete sie dann. Dabei starrte sie ins Leere. Rick durfte nicht sterben. Er durfte einfach nicht. Noch vor einer Stunde war er vergnügt gewesen und hatte gelacht und Witze gerissen. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf an die Wand. Ein kaltes Gefühl machte sich in ihrer Magengrube breit. Ihre Schulter schmerzte unerträglich. Die Stille in dem leeren Raum war bedrückend, und das eigenartige Druckgefühl in ihrem Nacken war schlimmer als je zuvor. Schließlich kehrte Nina zurück.
»Dein Vater ist unterwegs.« Sie hatte im Rennstall angerufen. »Zum Glück weiß seine Sekretärin immer, wo er gerade steckt.«
Jo nickte. Ihr Gesicht war bleich und eingefallen. Schweigend nahm Nina Platz und flocht die Finger ineinander, während die Sekunden verrannen. Zum ersten Mal im Leben hätte Jo sich gefreut, wenn das Geplapper ihrer Mutter sie von ihren angsterfüllten Gedanken abgelenkt hätte. Wie sehr sehnte sie sich danach, von ihr in die Arme genommen zu werden und die tröstende Stimme zu hören, an die sie sich noch aus ihrer Kindheit erinnerte – eine Stimme, die ihr sagte, dass Rick wieder gesund werden würde. Aber sie wusste, dass das ein Wunschtraum war. Die Situation überforderte Nina völlig.
Nur der Vater hätte Jo in diesem Augenblick Halt geben können. Ricks Krampfanfall auf der Trage – sein letzter verzweifelter Versuch, am Leben zu bleiben – hatte sie sehr erschreckt. Rick, ihr Bruder, den sie so sehr liebte. Rick, der sie hänselte, sich mit ihr kabbelte und der so dachte wie sie. Ihr Zwillingsbruder, ein Teil ihres Lebens, ein Teil von ihr. Ein Schauer überlief sie. Der Schmerz in ihrem Nacken verebbte plötzlich.
Kurz darauf öffnete sich die Tür, und der Chefarzt kam herein. Beim Anblick seiner Miene legte sich eine eiskalte Hand um Jos Herz. Nina stürmte wie ein kleines Mädchen auf ihn zu, wilde Hoffnung im Blick.
»Er wird doch wieder gesund?«
»Mrs Kingsford, ich denke, wir sollten uns besser setzen.« Der Arzt zog sich einen Stuhl heran. Er war so ruhig, dass Jo das Schlimmste befürchtete. Nina nahm Platz.
»Ihr Sohn hat eine sogenannte extradurale Blutung erlitten. Das heißt, eine Blutung, die zwischen Gehirn und Schädeldecke stattgefunden hat und die auf einem Röntgenbild nicht zu erkennen ist. Vermutlich hat sie nach dem Sturz auf den Kopf langsam eingesetzt und ist dann immer stärker geworden.« Er hielt inne. Jo verharrte reglos, mit aufgerissenen Augen. Ihre Pupillen waren geweitet.
»Aber er wird doch wieder gesund?«, beharrte Nina und beugte sich vor.
»Ihr Sohn war bei der Einlieferung in die Notaufnahme bereits bewusstlos«, fuhr der Arzt fort. »Als wir ihn in den Behandlungsraum brachten, atmete er bereits nicht mehr.«
Er holte tief Luft. Als er fortfuhr, gab er sich besondere Mühe, die medizinischen Vorgänge möglichst ausführlich zu erläutern, damit Nina und Jo die Wahrheit von allein dämmerte.
»Der Krampfanfall, den Sie vorhin gesehen haben, war bereits ein Hinweis auf einen schweren Gehirnschaden.« Er verstummte. »Niemand hätte das vorausahnen können, Mrs Kingsford. Sie beide haben getan, was Sie konnten, und ich versichere Ihnen, dass auch wir alles Menschenmögliche unternommen haben. Als sein Herz aussetzte, haben wir es mit Wiederbelebungsmaßnahmen versucht, aber vergeblich.«
Wieder brach er ab.
»Leider ist Ihr Sohn vor wenigen Minuten gestorben.«
Jo starrte ihn ungläubig an.
Nina stieß einen schmerzerfüllten Schrei aus.
»Nein! Nein! Das ist nicht wahr. Er kann nicht tot sein. Wozu gibt es denn Krankenhäuser?«, schluchzte sie und taumelte im Zimmer hin und her. Plötzlich machte sie auf dem Absatz kehrt und marschierte auf den Arzt zu.
»Hören Sie auf, mir etwas über seinen Tod zu erzählen. Holen Sie Ihren Vorgesetzten, damit der Ihren Pfusch wieder in Ordnung bringt«, zeterte sie und wedelte mit ihrem Banknotenbündel vor seiner Nase herum. »Alle Neurochirurgen des ganzen Landes sollen herkommen. Es ist mir egal, was es kostet.«
Sie zitterte am ganzen Leibe.
Jo war leichenblass, und ihre Beine fühlten sich an wie Gummi.
»Mum«, sagte sie leise. »Es ist zu spät. Er ist tot.«
Noch während sie diese Worte aussprach, konnte sie sie selbst kaum glauben.
»Mach dich doch nicht lächerlich, Joanna«, fuhr Nina sie an. »Dieser Mensch ist offenbar völlig überfordert.«
Ihre Stimme steigerte sich zu einem hysterischen Kreischen. »Sie Quacksalber! Holen Sie mir sofort einen richtigen Arzt!«
Der Chefarzt streckte die Hand nach Nina aus.
»Mrs Kingsford …«
»Fassen Sie mich nicht an!«, brüllte sie mit bebenden Schultern.
Jo ließ ihre aufgebrachte Mutter mit dem Arzt allein und schlüpfte aus dem Zimmer. Tränen liefen ihr die Wangen hinunter.
Sie hatte es gewusst – von dem Moment an, als die Schmerzen in ihrem Genick aufgehört hatten.
Dennoch konnte sie es noch immer nicht wirklich glauben.
Rick lag unter einem weißen Laken.
Der Beatmungsschlauch steckte noch in seinem Mund, und seine Lippen hatten eine bläuliche Färbung.
Der Herzmonitor neben ihm schwieg. Ihr Bruder schien zu schlafen.
Zuerst betrachtete Jo ihn nur, als erwarte sie, dass er jeden Moment die Augen öffnen würde.
Dann beugte sie sich vorsichtig vor und küsste ihn auf die Wange. Sie war überrascht, wie warm sie sich anfühlte.
Eine Träne tropfte auf sein Gesicht. Jo wischte sie weg.
»Rick, ich liebe dich«, flüsterte sie. Tränen verschleierten ihren Blick. Da spürte sie den starken Arm ihres Vaters um ihre Schultern.
»Und ich liebe dich auch, mein Sohn«, murmelte Charlie. Seine Stimme versagte. »Wir werden dich nie vergessen.«
Schluchzend drückte Jo das Gesicht an die Brust ihres Vaters.